Alarmruf für Artenschutz und Nachhaltigkeit
„Ein toter Planet hat keine Zukunft“, warnen Sie öffentlich lautstark die Zivilgesellschaft und die Politik. Sehen Sie den Planeten selbst auf der Roten Liste?
FRANZ ESSL: Das mag pointiert formuliert sein. Wir Menschen sind die treibende Kraft der Umweltveränderungen, wir sind aber von Nahrungsmitteln existenziell abhängig, die wir der Natur entnehmen. Ohne ein intaktes grünes Haus ist eine intakte Gesellschaft auf Dauer nicht möglich. Die Wissenschaft kann den alarmierenden Zustand eindeutig belegen, vom Rückgang der Insekten und der Brutvögel bis hin zum voranschreitenden Verlust der Regenwälder.
Als Ökologe an der Universität Wien und Wissenschaftler des Jahres erheben Sie warnend Ihre Stimme auch zur Lage in Österreich, das ein sehr artenreiches Land mit rund 68.000 Arten ist. Es fehle der Politik der Mut, diese Vielfalt zu behüten.
Österreich ist artenreicher als das vielfach größere Deutschland, weil wir Anteil an vielen Regionen haben - von den Alpen bis Ostösterreich - mit vielen Arten aus den Steppen und Einflüssen vom Mittelmeerraum, besonders in Kärnten. Das trifft sich in keinem anderen europäischen Land. Und die landschaftliche Vielfalt gehört zur nationalen Identität. Aber hinter der grünen Natur verbirgt sich in Österreich eine dramatische Veränderung mit massivem Flächenverbrauch in der Landnutzung.
“Das Engagement jedes Einzelnen ist für den Erhalt der Artenvielfalt von großer Bedeutung. ”
41 Quadratkilometer im Jahr, eine Fläche so groß wie Eisenstadt.
Ja, dagegen wird leider viel zu wenig unternommen.
Sie unterstützen gerade eine Staatshaftungsklage gegen diesen Flächenbrauch. Was erwarten Sie?
Die Verbauung von Flächen ist eine der Triebkräfte des Artenverlusts sowie auch des Klimawandels. Die Zersiedelung verschandelt die Landschaft und schafft einen nicht zielführenden Verkehr. Die Ortseinfahrten der Städte sind nur noch Einkaufsflächen, während in den Ortskernen nichts mehr los ist. Es gibt in Österreich seit 15 Jahren das Ziel, den täglichen Flächenverbrauch von derzeit 11 Hektar auf 2,5 Hektar zu reduzieren. Aber das Ziel wird nicht angegangen.
Weil für Straßen noch immer viel mehr Geld als für den Naturschutz ausgegeben wird?
Ja, in Niederösterreich ist das Straßenbaubudget etwa 30 mal so hoch wie das Naturschutzbudget, das steht beispielhaft für alle Bundesländer. Eine völlig unpassende Prioritätensetzung aus einem fossilen Zeitalter.
Sie fordern eine Milliarde für den Artenschutz. Wo soll das Geld eingesetzt werden?
Es braucht ein ganzes Bündel von Maßnahmen, besonders ausreichend finanzierte Schutzgebiete. Es muss sich auch für Landwirte lohnen, naturschutzkonforme Landwirtschaft zu betreiben. Das wird nicht ausreichend abgegolten.
Mehr Geld ist nur einer von zehn Schwerpunkten der Biodiversitätsstrategie in Österreich. Einer davon regt mehr grüne Finanzprodukte an. Da sind auch die Sparkassen gefordert.
Für ganz viele Weichenstellungen im Naturschutz ist der Finanzsektor ein entscheidender Akteur. Etwa, welche Art von Energie wie finanziert oder versichert wird. Welche Finanzprodukte mit welchen Kriterien angeboten werden. Das sind riesige Stellschrauben. Daher ist es wichtig, wenn der Finanzsektor klima- und biodiversitätsfördernde Produkte anbietet und umgekehrt Erzeuger fossiler Energie ausschließt.
Die ersten zwei Ziele sind der Erhalt der Arten und der Biotope. Wo ist die Gefährdung besonders hoch?
In Österreichs Kulturlandschaft spielen sich die gravierendsten Veränderungen in den tiefen Lagen ab, mit Wohngebieten und intensiver landwirtschaftlicher Nutzung. Da tun sich die Arten schwer, vor allem außerhalb des Waldes. Im Wald sieht es besser aus, weil die Waldfläche sehr groß ist und auch große Teile geschützt sind. Die Wiesen sind das große Sorgenkind. Blumenwiesen sowie Grünflächen von Mooren bis zum Halbtrockenrasen sind Schwerpunktlebensräume der Tagfalter und der Bienen. Die Wiesen werden mittlerweile aber statt zweimal viermal gemäht und auch viel stärker gedüngt. Das sind oft nur noch Äcker mit Gras, Löwenzahn und Gänseblümchen, aber es sind keine Blütenwiesen mehr. Damit verschwinden ganz viele Arten, bis hin zu den Wiesenbrütern unter den Vogelarten.
Sie sind Experte für Neobiota, eingeschleppte Arten. Für diese hat die EU eine Unionsliste mit 68 Arten, die einheimische verdrängen. Ein Drittel davon verdrängt autochthone Arten auch in Österreich. Folgen der Erwärmung?
Das ist mein Kernforschungsthema. Der Klimawandel fördert viele wärmeliebende eingeschleppte Arten. Den Asiatischen Marienkäfer, der heute der häufigste Marienkäfer in Europa ist, hat es vor 20 Jahren nicht bei uns gegeben. Ragweed, eine Pflanze mit allergenen Pollen, die Heuschnupfenallergiker plagen, wurde aus Nordamerika eingeschleppt.
Gibt Ihnen das 30:30:30-Ziel der Biodiversitätskonferenz von Montreal - also bis 2030 30 Prozent der Weltfläche unter Schutz stellen und 30 Prozent der zerstörten Fläche renaturieren- Zuversicht?
Das Ziel geht davon aus, was notwendig ist, mit einer gravierenden Verhaltensänderung von uns allen. Der Weg, auf dem wir jetzt sind, bedarf einer massiven Kurskorrektur. Dafür gibt es ein breites politisches Bewusstsein, und wenn man das offensiv kommuniziert, dann ist das mehrheitsfähig.
Sie haben sich mit 40 anderen Wissenschaftlern und mittlerweile auch allen Universitäten in Österreich hinter die Aktivisten der Letzten Generation gestellt. Ist dieser Protest ist Sie legitim?
Wenn sich die Rektoren aller öffentlichen Universitäten dazu bekennen, ist das ein sehr starkes Signal. Als Umweltwissenschafter sehe ich es genauso, und die Forderungen sind ja harmlos. Zum Beispiel wäre das Tempo 30/100 Km/h im Straßenverkehr leicht umsetzbar. In Graz funktioniert das schon.
Die Vision 2050 der Biodiversitätsstrategie beginnt mit den Worten: „Wir leben in Harmonie mit der Natur, der Verlust an Arten und Lebensräumen ist gestoppt.“ Klingt märchenhaft, was aber kann jeder dazu beitragen?
Man soll sich nicht von den globalen Dimensionen entmutigen lassen. Die Zukunft macht besorgt, aber sie ist gestaltbar – und diese Chance gilt es zu nutzen. Wichtig ist eine überlegte regionale Ernährung. Wer einen Garten hat, sollte sich überlegen, mehr als einen Rasen anzupflanzen. Man kann Initiativen für Naturschutz, etwa eine Naturschutzorganisation, unterstützen. Die persönliche Wahl des Engagements sollte in jedem Fall ein Herzensanliegen sein.